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88. Wilhelm von Humboldt an Goethe.

[Von fremder Hand.]

[Abgedruckt in: Neue Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 2, 3. Januar 1843.]

Die Güte, mit welcher Sie, verehrtester Freund, so unbedeutende Zeilen, als es die meinigen waren, einer so schönen und ausführlichen Antwort gewürdigt haben, hat mich aufs tiefste gerührt, und ich bringe Ihnen mit meinen innigsten Wünschen zum neubegonnenen Jahr meinen wärmsten Dank dafür dar. Es hat mich unendlich gefreut, aus Ihrem Briefe zu sehen, daß Sie gesund, heiter mit Ideen beschäftigt und rüstig zu jeder schönsten und gelingendsten Hervorbringung sind. Auch ich bin wohl und mehr als je zur Arbeit aufgelegt. Viel davon schreibe ich allerdings der Nordsee (denn für die baltische Schwester habe ich nur geringen Respect) zu. Indeß ist es mir auch, als wäre ich mehr, als je bisher der Fall war, auf den Punkt gekommen, auf den sich alle meine frühern Arbeiten und Studien in Eins zusammenziehen. Ich sehe dies als eine Mahnung an, der Dauer der Folgezeit nicht zu viel zu vertrauen, sondern die Gegenwart zu benutzen, das was ich wol fühle, was aber noch unentwickelt und zum Theil unerwiesen in mir liegt, dargestellt und ausgeführt zugleich mit mir davonzutragen und hinter mir zurückzulassen. Denn beides verbindet sich immer in meiner Vorstellung. Man besitzt in Ideen nur ganz, was man außer sich dargestellt in andere übergehen lassen kann, und wie dunkel auch alles Jenseitige ist, so kann ich es nicht für gleichgültig halten, ob man vor dem Dahingehen zur wahren Klarheit des im langen Leben in Ideen Erstrebten gelangt oder nicht? So weit kann sich die Individualität nicht verlieren, und da es einmal in der Welt zwei Richtungen gibt, die, wie Aufzug und Einschlag das geschichtliche Gewebe bilden, das immer abbrechende Leben der Individuen und ihre Entwickelung, und die Kette des durch ihre Hülfe vom Schicksal zusammenhängend Bewirkten, so kann ich mir einmal nicht helfen, das Individuelle für die Hauptsache anzusehen, von welcher der Weltgang eine gewissermaßen nothwendige Folge ist. Die Klarheit vor mir selbst bleibt mir daher, wenn ich nicht glaube, viel zu versäumen zu haben, das dringendste Motiv zur unausgesetzten 298Arbeit und ich fühle mich glücklich, daß diese sich jetzt in mir in festern Richtungen bewegt.

[ Pniower Nr. 914: Die Stelle Ihres Briefes über den Faust hat mich aufs höchste interessirt. Ich schicke Ihnen dieselbe in Abschrift zurück, weil Sie gewiß keine behalten haben und die Sache zu wichtig ist, um nicht künftig darauf zurückzukommen. Versuchen Sie doch einmal, ob Sie (da dies in der Stelle mir dunkel bleibt) aus Ihrer Erinnerung entnehmen können, ob Ihnen jene Art der Production mit völligem Bewußtsein wol immer beigewohnt hat, oder ob Sie dieselbe als erst in einer gewissen Epoche eingetreten betrachten? Ich möchte, wenn auch natürlich im Grade Verschiedenheiten gewesen sein mögen, an das erstere glauben. Der Aristotelische Ausdruck wenigstens, wenn man ihn auch noch so sehr als ein bloßes Extrem ansieht, hat gewiß niemals auf Sie gepaßt und paßt auf keines Ihrer Werke, auch nicht auf den Werther und den Götz. Ihre Dichtung stammte von jeher aus Ihrer ganzen Natur- und Weltansicht. ] Daß diese in Ihnen nur eine dichterische sein konnte, und daß Ihre Dichtung durch den ganzen Natur- und Weltzusammenhang bedingt sein mußte, darin liegt Ihre Individualität. Ich möchte daher Ihre Dichtung eine solche nennen, die sich verhältnißmäßig nur langsam aus dem mächtigen Stoffe entwickeln konnte, und die Sie in keiner Periode Ihres Lebens unterlassen konnten, sich möglicherweise verständlich zu machen. Denn wenn Sie auch nicht dies Streben auf Ihre Dichtung selbst richteten, so mußten Sie dasselbe doch, durch Ihre Natur selbst gezwungen, auf das noch tiefere und ungeheuere Element richten, welches Ihrer Dichtung in Ihnen zu Grunde lag. Sie sehen, liebster Freund, daß ich hier ganz eigentlich von dem Wesen der Dichtungskraft, nicht von der, obgleich allerdings auch davon abhängigen Form der Dichtungswerke rede. Das klarere Bewußtsein über diese könnte allerdings und ist wol 299unbezweifelterweise später eingetreten, obgleich auch das vielleicht anders sein könnte. Denn es hat mir in jener glücklichen Zeit, wo ich mit Ihnen und Schiller zusammen lebte, immer geschienen, daß Sie um kein Haar weniger (wenn Sie mir den Ausdruck erlauben) eine philosophirende und grübelnde Natur waren, als er. Nur war er zugleich mehr eine dialektische, da es gerade in der Ihrigen liegt, nichts durch die Dialektik für abgemacht zu halten. Wenn also sich in ihm Meinung, Maxime, Grundsatz, Theorie überhaupt schnell gestaltete und in Wort überging, auch wieder in anderer Zeit umgestaltete, so fanden Sie bei dem gleichen Bestreben sich mehr gehemmt, weil Sie allerdings etwas Anderes und schwerer zu Erreichendes, ja eigentlich wol nicht anders, als in ewiger Annäherung zu Erreichendes forderten.

Was ich hier sage, schwebte mir schon, als ich die Anzeige Ihrer italienischen Reise in Gastein machte, vor. Es wird einem aber so wunderlich zu Muthe, wenn man einen in sich einzigen Mann und für den man alle Gefühle der Verehrung und Liebe in sich trägt, vor dem Publikum gewissermaßen zergliedern soll. Ich hielt mich daher billigerweise in gemessenen Schranken, sonst hätte ich sehr gern damals auch ausgeführt, wie gerade die Stärke, das Gewaltige und die leidenschaftliche Glut Ihrer Dichtung aus dem stammt, was ich soeben ein langsames Hervorbrechen nannte. Sie müssen es mir schon verzeihen, theuerer Freund, wenn ich auch vielleicht für einen Brief zu weit in Erklärungen und Spaltungen dessen eingehe, was sich eigentlich nicht erklären und spalten läßt. Aber die geistige Natur der Menschen oder der höhern Geschöpfe, als sie, wenn es solche gibt, ist meiner Ueberzeugung nach die einzige Seele in der Welt, es möge nun jede einzelne für sich ein Ganzes oder nur ein ἀπορρώξ von einer unendlichen sein, von dieser ausgehen und in diese zurückkehren, und da kann man nun der Versuchung nicht widerstehen, ewig wieder darauf zurückzukommen, über eine solche, wie die Ihrige, nachzudenken.

[ Pniower Nr. 914 (weiter): Was Ihre Werke an Fortsetzungen des Faust enthalten, habe ich natürlich oft und mit dem größten Genusse gelesen, auch oft versucht, mir es als ein Ganzes vorzustellen. Es bleiben aber da natürlich noch viele Lücken und man geräth auch wol auf irrige Ausfüllungen. Schon das steigert das Verlangen, den Knoten von Ihnen selbst gelöst zu sehen, und es ist schon darum Ihre Maßregel des Versiegelns ein wahrhaft grausames Beginnen. Ich weiß auch nicht einmal, ob es dem Zwecke entspricht, den Sie dabei zu haben scheinen, nicht mehr in die Versuchung zu gerathen, weiter daran zu arbeiten. Solch ein versiegeltes Manuscript gleicht einem Testamente, das man immer zurücknehmen kann, dagegen stellt nichts ein eigenes Product dem Verfasser so außer sich und reißt es von ihm los, als der Druck. Wenn ich Sie recht verstehe, daß Sie es wirklich nicht erleben wollen, den Faust zusammen gedruckt zu sehen, so beschwöre ich Sie wirklich, diesen Vorsatz wieder aufzugeben. Berauben Sie sich selbst nicht des Genusses, denn ein solcher ist es doch, eine Dichtung hinzustellen, die schon so tief empfunden worden ist, und nun in einem noch höhern Sinne aufgenommen werden muß, berauben Sie aber vorzüglich die nicht der Freude, das Ganze zu kennen, die den Gedanken nicht ertragen mögen, Sie zu überleben. ]

Noch hat mich in Ihrem Briefe die Stelle über das Geschichtliche sehr beschäftigt, aber der meinige ist schon überlang geworden, und zu große Länge der Briefe thut leicht ihrer Häufigkeit Eintrag und doch wünsche ich herzlich, nach so langem Schweigen, daß wir von jetzt an oft voneinander hörten. Erfüllen Sie, verehrtester Freund, diese Bitte und leben Sie innigst wohl. [Von da ab eigenhändig:] Mit der liebevollsten Verehrung der Ihrige

Tegel, den 6. Januar 1832. Humboldt.