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Mittw. d. 20. [Januar].

[ Pniower Nr. 765: Fernere Scene wo Faust nach der Helena fragt und der Berg entsteht. ]

[Diese Tagebuchnotizen vom 3.–20. Januar stehen auf den beiden Seiten eines schmalen Blattes, keineswegs in richtiger zeitlicher Reihenfolge. Die zweite Seite hat oben folgende zwei Bemerkungen: „Manzonis zarte Organisation. – Es bedarf einer zarten O. um seltener Gefühle fähig zu seyn und die Stimme der Götter zu vernehmen“. Ohne Nachprüfung darf man annehmen, daß hier Worte Goethes skizziert sind, die aus jenen Januartagen stammen oder ihnen doch nicht fern liegen; wahrscheinlich standen sie zuerst auf dem Papier, das dann nachher zu den Tagebuchnotizen genommen wurde, sie wären also etwas vorzudatieren. Das bestätigt sich aus den Gesprächen: die Worte finden sich unterm 20. Dezember 1829.

Mit dem 23. Januar 1830 beginnt nun wieder ein ausgeführtes Tagebuch. Es fand sich in einem besondern Umschlag, der die Aufschrift trägt:]

Tagebuch worin geschrieben, weniger was ich gethan als was ich genossen und gelebt habe, besonders in Bezug auf Auguste, um zu erfahren was an einer Darstellung hinterher poetisch seyn möchte.

Am 23. Januar Sonnabend die Stumme von Portici bey aufgehobenem Abonnement zum sechsten Male und bey übervollem Hause. Vor der Sonne zählte ich sechzig Schlitten, Hofrath Vogel hatte vor dem Schwan, Elephanten und Erbprinzen siebzig gezählt. Ich war mit den Engländern auf dem linken Balkon. Im fünften Act trank Auguste mit der Müller meine Gesundheit, welches mich abermals so beglückte, daß ich es zu den schönsten Augenblicken meines Lebens zählte. Es hat einen ungemeinen Reiz, in der Mitte von sechshundert Menschen zu sitzen und nun ein Auge zu wissen, das uns in der Menge sucht, und ein Herz, das unserer gedenkt. Und wie schön war sie wieder! O wie schön ist sie, gesehen von oben! Mich soll wundern, ob es möglich seyn wird, dieses liebenswürdige Wesen je zu vergessen. Oft glaube ich an ihrem Betragen zu bemerken, daß ihr Herz wenig für mich empfindet; ich rufe dann meinen Stolz hervor, ich will sie mir aus dem Sinne schlagen, und wirklich fühle ich dann auch meine Liebe sehr kühl und geringe. So können Wochen und Tage hingehen, ich kann in Ruhe arbeiten, und sie erscheint mir nur selten in Träumen. Aber dann brauche ich sie nur wieder zu sehen, vorzüglich unter anderen oder aus der Ferne, und sie braucht mir nur ein Zeichen einer stillgehegten Neigung zu geben, und ich empfinde wieder mit der innigsten Wärme, daß ich sie liebe. Dann ist sie mir wieder überall gegenwärtig, und ich habe wieder die Fähigkeit, ihr zu begegnen, wenn ich es wünsche. Ich las dieser Tage in einem Mythologischen Buche die Fabel von Eros und Anteros und fühlte sehr tief das Wahre daran, und wie es auf meinen Fall paßt. ‚Amor wollte in der ersten Kindheit nicht wachsen, bis Venus den Anteros geboren hatte. Nun aber begann Eros zuzunehmen, er breitete seine Flügel aus und war vergnügt, wenn Anteros ihm nahe war. Entfernte sich dieser, so ward er niedergeschlagen und ließ die Flügel sinken.‘