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Nicolai an Zimmermann.

Berlin, den 15. April 1775.

Ich habe, mein werthester Freund, Ihre beiden Schreiben vom 15. Febr. und 9. April erhalten. Daß Ihnen mein kleines Traktätchen

**) Nicolai’s „Freuden des jungen Werthers. Leiden und Freuden Werthers des Mannes.“ Berlin 1775.

, die Frucht von etwa 2½ Tagen, gefällt, ist mir äußerst 304angenehm. Ihr Beyfall und der Beyfall verständiger Männer, die so wie Sie denken, ist was ich gewünscht habe. Denn daß Göthe Feuer und Flammen seyn würde, wußte ich voraus. Diese Herren, die das Faustrecht gern einführen wollen, thun es nur, um nach Belieben Faustschläge und Ribbenstöße austheilen zu können, wenn sie lustig sind. Wider sie selbst aber soll das Faustrecht nicht gelten. Ich befürchte auch, daß sie bey allem ihrem Genie so wenig Stärke des Geistes haben, daß sie nur von einem geringen Fingertipp zu wanken anfangen. Ueber das, was im „Prometheus“

*) H. L. Wagner: „Prometheus, Deucalion und seine Recensenten“ (Frkf.) 1775; vgl. Goethe’s Erklärung darüber in den Frankfurt. gel. Anz. 1757, Nr. 32.

drollig ist, habe ich von Herzen gelacht, und was mich angeht hat mir nicht eine unmuthige Minute gemacht. [ Pniower Nr. 18: Man droht von Frankfurt aus mit mehrerm, unter andern, daß Göthe mich in seinem Doctor Faust wie ich leibte und lebte aufstellen wollte. Auch das wird mich gar nicht aus der Fassung bringen, sondern wenn die Komödie aufgeführt wird, setze ich mich vornan. Ich traue mich, mich neben jedes Bild zu stellen, das man von mir macht, es gleiche mir nun oder nicht. ] – Aber wahr ist’s, daß man die Gelehrsamkeit beinahe verachten möchte, wenn man in das Betragen der meisten Gelehrten sieht, wie sie, um kleiner Absichten willen, so klein handeln. In die Trompete soll Jedermann stoßen oder er soll prologisirt werden! O pectora coeca!

Ja! ich bin der Verfasser der Recension von Lavater’s Physiognomik, der Sie, mein lieber Zimmermann, viel zu viel Lob beylegen. Ich bin sehr erfreut, daß Ihnen meine Gedanken einleuchtend vorkommen. Ich war schon vor 2 Jahren willens, diese Recension zu machen, aber, wie viele meiner andern Projecte, blieb sie wegen überhäufter Handlungsarbeiten liegen. Endlich indignirten mich die vielen schiefen Urtheile über die Physiognomik und ich wollte auch, ich gestehe es gern, unserm Lavater einen Wink geben. Seine Einbildungskraft fliegt gar zu oft mit seinem Verstande davon. Und ich wollte gar zu ungern, daß er dieses in der Physiognomik thäte, die sich ganz auf Natur und Thatsachen gründen muß, oder gar nichts ist. Ich habe deshalb seit Jahr und Tag mit ihm correspondirt, in Briefen, die gemeiniglich auf meiner Seite zwey Bogen und auf seiner Seite sechs Zeilen lang waren. Ich habe ihn so sehr gebeten als ich konnte, auf dem Wege, den er in dem zweyten Theile seiner kleinen Ph. so vortrefflich vorgezeichnet hat, fortzugehen. Ich habe ihn vielleicht auch von manchen Dingen zurückgebracht, indem 305ich ihm verschiedene seiner Urtheile, auf die er sehr sicher fußte, einleuchtend widerlegt habe. Aber ich merke wohl, ihm behagen meine Rathschläge nicht, denn er hat, wie ich nunmehr unwidersprechlich sehe, bey seiner Physiognomik eine Nebenabsicht, die er durchsetzen will. Ich muß Ihnen dieses als einem beiderseitigen Freunde entdecken, in der gewissen Hoffnung, daß Sie weder gegen Lavater, noch sonst einen Gebrauch davon machen werden, der indiscret wäre. Ich habe, seitdem ich den ersten Theil seiner kl. Ph. gelesen, gemerkt, daß die Phys. bey ihm in unmittelbarer Verbindung mit seinen Aussichten

*) Lavaters „Aussichten in die Ewigkeit“ (1768–1773).

steht; dies ist besonders aus dem dritten Theile der letztern sehr sichtbar. Beide gründen sich auf ein geheimes und (das Wort ist nicht zu hart) unsinniges System der Religion, welches Lavater im innersten hegt, aber sich bisher nur gegen wenige von seinen vertrautesten Freunden davon etwas hat merken lassen. Ich weiß nicht, ob Sie es auch schon kennen. Der Hauptsatz ist: „Christus hat die menschliche Natur verbessert, indem aller Aether, der in der Welt ist, durch seinen Körper circulirt hat. Der Aether ist in beständigen harmonischen Schwingungen; dieser Schwingungen sind die Körper der Gläubigen empfänglicher, weil sie weichere und rundere Fibern haben; die Körper der Gottlosen hingegen sind steif und hart wie die Todten, und respuiren den mit Christuskraft imprägnirten Aether“, – und was der Thorheiten mehr sind. Wenn man diese geheime Hypothese kennet, so erklärt sich vieles sonst Unerklärliches in Lavaters Schriften, z. B. in seinem Tagebuche: „daß Christi Genugthuung eine physische Kraft habe“ u. dergl. Hierauf gründet sich in seiner großen Physiognomik der Grundsatz: „je moralisch besser, desto schöner“, denn freilich sind die Gläubigen runder und weicher, folglich schöner. Darauf gründet sich seine Grille vom Christuskopf, welcher nach seiner Voraussetzung freilich der schönste seyn muß. Indessen würde diese Hypothese nicht nur die christliche Religion ad absurdum führen, denn die Griechen, denen wir doch nur nachgaffen und nachlallen, sind zu ihrer Schönheit gewiß durch einen andern Weg als durch den Glauben gelanget, sondern, wenn Lavater die Physiognomik mit Rücksicht auf solche Grillen traktirt, so verwirrt er sich gewiß, macht Fehlschlüsse und verliert bey den Lesern den Glauben. Alsdann ist die Physiognomik, welche zu einer Wissenschaft zu erheben jetzt die Zeit war, wieder auf hundert oder zweyhundert Jahre lang verachtet. Ich habe die 11 ersten Bogen der großen Physiognomik gelesen und ich gestehe gern, sie haben mir nicht Genüge gethan. Das verbiage ungerechnet, ist auch alles gar zu schwankend. Bald sagt 306er, daß er von der Ph. sehr wenig verstehe, bald pocht er auf seine Kenntniß, als ob sie auf einem Felsen gegründet sey, bald macht er den Satz: „Je moralisch besser, desto schöner“ zum Grundsatze der Ph., bald nimmt er von demselben soviel wieder zurück, daß Schönheit, an sich betrachtet, kein criterium der Tugend seyn kann. Er redet von Harmonie der körperlichen und moralischen Schönheit, ehe er noch erklärt hat, was er unter beiden versteht. Ist jene: griechisches Ideal? ist diese: Glauben an Christum? In Lavaters Kopfe wenigstens, wie es mir scheint. Er hat gut sagen: jeder Bauer und jedes Kind kommt in den Begriffen von Schönheit überein. Dies ist grundfalsch. Der Grieche und der Araber haben ganz verschiedene Begriffe davon. Und der Chinese und Neger? Lavater wird doch nicht im Ernste glauben wollen, alle Neger wären furchtsame Schurken, weil sie platte Nasen haben? Ist’s möglich, so bringen Sie den guten Mann doch davon ab, daß er über subtile Fragen und transscendente Schattenspiele nicht raisonnirt, bis wir in dieser Wissenschaft nur erst über die Elemente einig sind. Dazu werden schon mehr als drei Generationen gehören. Wenn Lavater seinen Entwurf im 2. Theile seiner kl. Phys. ausführen wollte, wenn er uns Nasen, Lippen, Zähne, Füße, Lenden unterscheiden lehren wollte, wenn er uns sagen wollte, worüber er richtige Beobachtungen gemacht habe und worüber nicht, und worüber er noch zweifelhaft sey, so wird er der Physiognomik einen wichtigen Dienst thun. Alle zu complicirte Fragen müssen wegbleiben, genug wenn nur erst der Leser aufmerksam wird. Es ist wahr, er wird nicht so sehr glänzen können, aber er wird auch keine Trugschlüsse machen. Ich wünschte auch, er hätte sich etwas mehr Zeit gelassen. Ich sehe aus seiner Correspondenz mit Chodowiecki, wie tumultuarisch es mit den Zeichnungen und Kupferstichen geht: wie viel ganz unnütz gemacht und bezahlt wird, und wie vieles elend executirt wird. Da hat er einen gewissen Lips in Affection genommen, der die trefflichsten Zeichnungen von Chodowiecki verdirbt und zu dem großen Werke einige ganz elende Vignetten gestochen hat. Ich hätte überhaupt gewünscht, daß in diesem ohnedies theuren Werke die Vignetten weggeblieben wären, oder daß sie keine kahle Allegorien, sondern nützliche physiognomische Zeichnungen, Augen, Nasen, Ohren enthielten.

Dies sind meine pia desideria oder eigentlich nur ein Theil davon. Ich mußte sie vom Herzen wegsagen, und wem wollte ich sie lieber sagen, als Ihnen, mein liebster Zimmermann? Es thut mir in der Seele weh, zu sehen, daß Lavater in der Physiognomik nicht leistet, was er wirklich leisten könnte, wenn er nur bedächtiger zu Werke ginge. Daß ich auf den Rest der großen Physiognomik, den ich noch nicht gelesen und gesehen habe, sehr neugierig bin, können Sie sich wohl vorstellen. Schreiben Sie mir doch aufrichtig und sub fide silentii, was Lavater von meiner Recension sagt. Ich habe sie ihm schon im Januar, nebst den Freuden Werthers gesendet. Er antwortet mir aber nicht, sowie es auch alle übrigen Freunde Göthe’s nicht thun. Und ich kann mir doch wahrlich alles sagen lassen. Auch wenn Sie etwas von Göthe gegen mich wissen, schreiben Sie es mir immer, ich werde es nicht misbrauchen und nicht böse werden. Ich sende Ihnen auch beyliegend die Schrift Lavatern betreffend. Der Verfasser ist gänzlich unbekannt. Er muß ein Schweizer seyn. Der Verleger Decker ist aus Basel und hat sich vorigen ganzen Sommer in der Schweiz aufgehalten. Also kann er dort leicht Connexionen haben. Ich wünschte, daß der Ungenannte die Bitterkeiten weggelassen und die Facta nicht bloß angeführt, sondern wirklich erzählt und auseinandergesetzt hätte, damit sie entweder hätten können verificirt oder widerlegt werden. Noch mehr wünschte ich aber um Lavaters willen, daß diese oder ähnliche Geschichte nicht wahr seyn möchten. Aber seine besten Freunde können dieses nicht läugnen. Dieser Mann hat zwei große Fehler, eine glänzende (obgleich nicht starke) Einbildungkraft und eine übertriebene Ehrbegierde, und beständig hat er die erste zu Diensten der letztern gebraucht. Er hat mit Gewalt wollen Epoche machen, und dies läßt sich, glaube ich, nicht erzwingen. Hierdurch ist er aber auf alle seine Dornwege geführt worden. Er flattert immer noch, auch wenn er endlich merkt, daß das Fliegen nicht gehen will, weil ihm stehen und gehen zu gemein ist.

Dies ist mein Glaubensbekenntniß von Lavatern, das ich Sie bitte aufzunehmen, wie ich es gemeint habe, freundschaftlich und herzlich. Wenn ich einen Gedanken auf dem Herzen habe, so muß er heraus, ob mir diese Offenherzigkeit gleich in dieser Welt, wo man nur mit einander Complimente wechseln will, oft geschadet hat. Sie, mein bester Zimmermann, denken nicht so, denn ich weiß, daß Sie mich lieben und daß Sie wissen, daß ich ein ehrlicher Mann bin. Daß ich Sie herzlich liebe und verehre, wissen Sie auch, und also werden Sie eine Offenherzigkeit nicht übel nehmen, die bloß in meinem Zutrauen gegen Sie ihren Ursprung hat. Ich umarme Sie und bin ganz der Ihrige

Nicolai.