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2/301. An Auguste Gräfin zu Stolberg

[Offenbach, 7. – Frankfurt, 10. März 1775.]

Warum soll ich Ihnen nicht schreiben, warum wieder die Feder liegen lassen, nach der ich bisher so 241 offt reichte. Wie immer immer hab ich an Sie gedacht. Und iezzo! – Auf dem Lande bey sehr lieben Menschen – in Erwartung – liebe Auguste – Gott weis ich bin ein armer Junge – den 28. Februar haben wir getanzt die Fassnacht beschlossen – ich war mit von den ersten im Saale, ging auf und ab, dachte an Sie – und dann – viel freud und Lieb umgab mich – Morgends da ich nach Hause kam, wollt ich Ihnen schreiben, liess es aber und redete viel mit Ihnen – Was soll ich Ihnen sagen, da ich Ihnen meinen gegenwärtigen Zustand nicht ganz sagen kann, da Sie mich nicht kennen. Liebe! Liebe! Bleiben Sie mir hold – Ich wollt ich könnt auf Ihrer Hand ruhen, in Ihrem Aug rasten. Groser Gott was ist das Herz des Menschen! – Gute Nacht. Ich dachte mir sollts unterm Schreiben besser werden – Umsonst mein Kopf ist überspannt, Ade. Heut ist der 6. März denck ich. Schreiben Sie doch auch immer die Daten in solcher Entfernung ist das viel Freud.

Guten Morgen liebe. Die Zimmerleute die da drüben einen Bau aufschlagen, haben mich aufgeweckt, und ich habe keine Rast im Bette. Ich will an meine Schwester schreiben, und dann mit Ihnen noch ein Wort.

Es ist Nacht, ich wollte noch in Garten, musste aber unter der Thüre stehen bleiben, es regnet sehr. Viel hab ich an Sie gedacht! Gedacht dass ich für Ihre Silhouette noch nicht gedankt habe! Wie offt 242 habe ich schon dafür gedanckt, wie ist mein und meines Bruders Lavaters Phisiognomischer Glaube wieder bestätigt. Diese rein sinnende Stirn diese süsse Festigkeit der Nase, diese liebe Lippe dieses gewisse Kinn, der Adel des ganzen! Dancke meine Liebe dancke. – [ Gräf Nr. 855: Heut war der Tag wunderbaar. Habe gezeichnet – eine Scene geschrieben. O wenn ich jetzt nicht Dramas schriebe ich ging zu Grund. Bald schick ich Ihnen eins geschrieben – Könnt ich gegen Ihnen über sizzen und es selbst in Ihr Herz würcken, – Liebe, nur daß es Ihnen nicht aus Händen kommt. Ich mag das nicht drucken lassen denn ich will, wenn Gott will, künftig meine Frauen und Kinder in ein Eckelgen begraben oder etabliren; ohne es dem Publico auf die Nase zu hängen. Ich bin das ausgraben und seziren meines armen Werthers so satt. ] Wo ich in eine Stube trete, find ich das Berliner p. Hundezeug, der eine schilt drauf, der andre lobts, der dritte sagt es geht doch an, und so hezt mich einer wie der andere.

– Nun denn Sie nehmen mir auch das nicht übel – Nimmt mirs doch nichts an meinem innern Ganzen, rührt und rückts mich doch nicht in meinen Arbeiten, die immer nur die aufbewahrten Freuden und Leiden meines Lebens sind – denn ob ich gleich finde dass es viel raisonnabler sey Hünerblut zu vergiessen als sein eig'nes – die Kinder tollen über mir, es ist mir besser ich geh hinauf als zu tief in Text zu gerathen.

243 Ich hab das ältste Mädgen lassen anderthalb Seiten im Paradiesgärtlein herabbuchstabiren, mir ist ganz wohl, und so gesegnete Mahlzeit. Ade! – Warum sag ich dir nicht alles – Beste – Geduld Geduld hab mit mir!

Den 10ten, wieder in der Stadt auf meiner Bergere; aufm Knie schreib ich Ihnen. Liebe der Brief soll heute fort, und nur sag ich Ihnen noch dass mein Kopf ziemlich heiter mein Herz leidlich frey ist – Was sag ich –! o beste wie wollen wir Ausdrücke finden für das was wir fühlen! Beste wie können wir einander was von unserm Zustande melden, da der von Stund zu Stund wechselt.

Ich hoffe auf einen Brief von Ihnen, und die Hoffnung lässt nicht zu schanden werden.

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Geseegnet der gute Trieb der mir eingab statt allen weitern Schreibens, Ihnen meine Stube, wie sie da vor mir steht, zu zeichnen. Adieu. Halten Sie einen armen iungen am Herzen. Geb Ihnen der gute Vater im Himmel viel muthige frohe Stunden wie ich deren offt hab, und dann lass die Dämmrung kommen tränenvoll und seelig – Amen.

Ade liebe Ade.

Goethe.