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49/48. An Carl Friedrich von Reinhard

Der verehrte Freund überzeugt sich daß auch mich die wunderlich-unschickliche Complication, die ihm peinlich ist, nicht weniger beunruhigt. Freund v. Müller hat mich von allem unterrichtet, und es bleibt die unangenehmste Empfindung von der Welt, wenn man im Dunkeln tappt, wo man, auch aufgeklärt, nicht helfen könnte. Wenigstens möchte man zu einiger Beruhigung wissen, wie die Sache steht? und ob vielleicht nicht gar das, was uns verwirrt, unter einem anderen Gesichtspuncte schon aufgelös't ist.

Unsern theuern genannten Freund hat vor einigen Tagen die Schnellpost mit an den Mayn gerissen. Ich will seinem Vorhaben nicht alle Realität absprechen, aber in der Ferne scheint mir doch etwas Schattenhaftes vorzuschweben.

61 Daß wir nun auch die lieben Ihrigen nicht sehen sollen, ist ein wahrhaftes Mißgeschick; denn ein heiteres Wiederanknüpfen in Gegenwart hat doch gar zu großen Werth, besonders für unsre Zustände, wo vor dem Drang des Augenblicks das Vergangne zu verschwinden scheint.

Doch dergleichen umnebelnde hypochondrische Dünste zu entfernen, bedien ich mich aller sittlich-realistischen Mittel. Die dießmal sehr gesteigerte Feyer des 28. August, welche zu dämpfen ich kein Recht hatte, glaubte ich nicht in der Nähe bestehen zu können. Deshalb verfügte ich mich mit meinen beiden Enkeln nach Ilmenau, um die Geister der Vergangenheit durch die Gegenwart der Herankommenden auf eine gesetzte und gefaßte Weise zu begrüßen.

Die jungen Wesen, worunter sich der liebe Pathe besonders hervorthat, drangen ohne poetisches Vehikel in die ersten unmittelbarsten Zustände der Natur. Sie sahen die Kohlenbrenner an Ort und Stelle, Leute, die das ganze Jahr weder Brot noch Butter noch Bier zu sehen kriegen und nur von Erdäpfeln und Ziegenmilch leben. Andere, wie Holzhauer, Glasbläser, sind in ähnlichem Falle, aber alle heiterer als unser einer, dessen Kahn sich so voll gepackt hat, daß er jeden Augenblick fürchten muß, mit der ganzen Ladung unterzugehen.

Indessen muß man nicht versäumen, Ruder und Segel und sonstige Griffe des Handwerks zu benutzen, um über die Welle des Augenblicks wegzukommen. 62 Als Poet denk ich immer, daß auf's stranden sich landen reime und somit Gott befohlen. Doch warum sag ich Ihnen das? da Sie hierin erfahrner und gewandter sind als wir Sedentarien alle.

[ Gräf Nr. 1950: Bekräftigen muß ich aber doch vertraulich, daß es mir gelungen ist, den zweyten Theil des Faust in sich selbst abzuschließen. Ich wußte schon lange her was, ja sogar wie ich's wollte, führte aber nur die einzelnen Stellen aus, die mich von Zeit zu Zeit anlachten. Nun bedurft es zuletzt einen recht tüchtigen Entschluß, das Ganze zusammenzuarbeiten, ich bestimmte fest in mir: es müsse vor meinem Geburtstag geschehen seyn. Und es war in der Hälfte des Augusts, daß ich nichts mehr daran zu thun wußte, das Manuscript einsiegelte, damit es mir aus den Augen und aus allem Antheil sich entfernte. Nun mag es dereinst die specifische Schwere der folgenden Bände meiner Werke vermehren, wie und wann es damit auch werde. Mein Wunsch ist, daß es Ihnen zu guter Stunde in die Hand kommen möge. Aufschluß erwarten Sie nicht; der Welt- und Menschengeschichte gleich, enthüllt das zuletzt aufgelös'te Problem immer wieder ein neues aufzulösendes. ]

Möge Gegenwärtiges, im besten Sinne, aber hie und da nicht mit wünschenswerther Deutlichkeit Geschriebenes freundlich aufgenommen und seiner Zeit geneigt erwidert werden.

unwandelbar angehörig

Weimar den 7. September 1831.

J. W. v. Goethe.