303

1298.

1830, 21. Mai bis Anfang Juni.

Mit Felix Mendelsohn-Bartholdy u.a.

a.

Zur Erzählung wieder zu kommen, schickte ich den Brief von Zelter sogleich hinein zu Goethe. Der ließ mich zu Tische bitten. Da fand ich ihn denn im Äußern unverändert, anfangs aber etwas still und wenig theilnehmend; ich glaube, er wollte mal zusehen, wie ich mich wohl nehmen möchte; mir war es verdrießlich, und ich dachte, er wäre jetzt immer so. Da kam zum Glück die Rede auf die Frauenvereine in Weimar und auf das »Chaos«, eine tolle Zeitung, die die Damen unter sich herausgeben, und zu deren Mitarbeiter 304 ich mich aufgeschwungen habe. Aufeinmal fing der Alte an, lustig zu werden und die beiden Damen [Ottilie und deren Schwester] zu necken mit der Wohlthätigkeit und dem Geistreichthum und den Subscriptionen und der Krankenpflege, die er ganz besonders zu hassen scheint, forderte mich auf, auch mit loszuziehen; und da ich mir das nicht zweimal sagen ließ, so wurde er erst wieder ganz wie sonst und dann noch freundlicher und Vertraulicher, als ich ihn bis jetzt kannte. Da ging's denn über alles her. Von der ›Räuberbraut‹ von Ries meinte er: die enthielte alles, was ein Künstler jetzt brauche, um glücklich zu sehen: einen Räuber und eine Braut. Dann schimpfte er auf die allgemeine Sehnsucht der jungen Leute, die so melancholisch wären; dann erzählte er Geschichten von einer jungen Dame, der er einmal die Cour gemacht hätte, und die auch einiges Interesse an ihm genommen habe; dann kamen die Ausstellungen und der Verkauf von Handarbeiten für Verunglückte, wo die Weimaranerinnen die Verkäuferinnen machen, und wo er behauptete, daß man gar nichts bekommen könnte, weil die jungen Leute alles unter sich vorher bestimmten und dann versteckten bis die rechten Käufer kämen u.s.w.

Nach Tische fing er dann aufeinmal an: »Gute Kinder – hübsche Kinder – muß immer lustig sein – tolles Volk!« und dazu machte er Augen, wie der alte Löwe, wenn er einschlafen will. Dann mußte ich 305 ihm vorspielen, und er meinte: wie das so sonderbar sei, daß er so lange keine Musik gehört habe; nun hätten wir die Sache immer weitergeführt und er wisse nichts davon; ich müsse ihm darüber viel erzählen: »denn wir wollen doch auch einmal vernünftig miteinander darüber sprechen.« Dann sagte er zu Ottilie: »Du hast nun schon gewiß Deine weisen Einrichtungen getroffen, das hilft aber nichts gegen meine Befehle, und die sind, daß Du heut hier Deinen Thee machst, damit wir wieder zusammen sind.« Als die nun frug, ob es nicht zu spät werden würde, da Riemer zu ihm käme und mit ihm arbeiten wolle, so meinte er: »Da Du Deinen Kindern heut früh ihr Latein geschenkt hast, damit sie den Felix spielen hörten, so könntest Du mir doch auch einmal meine Arbeit erlassen.« Dann lud er mich auf den heutigen Tag wieder zu Tisch ein, und ich spielte ihm abends viel vor; meine drei ›Walliser oder Walliserinnen‹ 1 machen hier viel Glück, und ich suche mein Englisch wieder vor.

Da ich Goethe gebeten hatte, mich Du zu nennen, ließ er mir den folgenden Tag durch Ottilie sagen: dann müsse ich aber länger bleiben, als zwei Tage, wie ich gewollt hätte, sonst könne er sich nicht wieder daran gewöhnen. Wie er mir das nun noch selbst sagte und meinte: ich würde wohl nichts versäumen, 306 wenn ich etwas länger bliebe, und mich einlud, jeden Tag zum Essen zu kommen, wenn ich nicht anderswo sein wollte; wie ich denn nun bis jetzt auch jeden Tag da war und ihm gestern von Schottland, Hengstenberg, Spontini und Hegel's Ästhetik erzählen mußte; wie er mich dann nach Tiefurt mit den Damen schickte, mir aber verbot, nach Berka zu fahren, weil da ein schönes Mädchen wohne und er mich nicht in's Unglück stürzen wolle; und wie ich dann so dachte, das sei nun der Goethe, von dem die Leute einst behaupten würden, er sei gar nicht Eine Person, sondern er bestehe aus mehreren kleinen Goethiden – da wäre ich wohl recht toll gewesen, wenn mich die Zeit gereicht hätte. Heute [24. Mai] soll ich ihm Sachen von Bach, Haydn und Mozart vorspielen und ihn dann so weiter führen bis jetzt – wie er sagte.

b.

Gestern [24. Mai] Abend war ich in einer Gesellschaft bei Goethe und spielte den ganzen Abend allein: Concertstück, Aufforderung, Polonaise in C von Weber, drei wälsche Stück, schottische Sonate. Um zehn war es aus, ich blieb aber natürlich unter dummem Zeug, Tanzen, Singen u.s.w. bis zwölf, lebe überhaupt ein Heidenleben. Der Alte geht immer um neun Uhr auf sein Zimmer, und sowie er fort ist, tanzen wir auf den Bänken und sind noch nie vor Mitternacht auseinandergegangen.

307 Morgen wird mein Portrait [gezeichnet von Schmeller für Goethes Bildnißsammlung] fertig; es wird eine große, schwarze, sehr ähnliche Kreidezeichnung, aber ich sehe sehr brummig aus. Goethe ist so freundlich und liebevoll mit mir, daß ich's gar nicht zu danken und zu verdienen weiß. Vormittags muß ich ihm ein Stündchen Clavier vorspielen von allen verschiedenen großen Componisten nach der Zeitfolge und muß ihm erzählen, wie sie die Sache weitergebracht hätten, und dazu sitzt er in einer dunkeln Ecke wie ein Jupiter tonans und blitzt mit den alten Augen. An den Beethoven wollte er gar nicht heran, ich sagte ihm aber, ich könne ihm nicht helfen, und spielte ihm nun das erste Stück der C-Moll-Symphonie vor. Das berührte ihn ganz seltsam. Er sagte erst: »Das bewegt aber gar nichts, das macht nur staunen; das ist grandios!« Und dann brummte er so weiter und fing nach langer Zeit wieder an: »Das ist sehr groß, ganz toll! Man möchte sich fürchten, das Haus fiele ein. Und wenn das nun alle die Menschen zusammen spielen!« – Und bei Tische, mitten in einem anderen Gespräch, fing er wieder damit an.

Daß ich nun alle Tage bei ihm esse, wißt Ihr schon. Da frägt er mich denn sehr genau aus und wird nach Tische immer so munter und mittheilend, daß wir meistens noch über eine Stunde allein im Zimmer sitzen bleiben, wo er ganz ununterbrochen spricht. Das ist eine einzige Freude, wie er einmal 308 mir Kupferstiche holt und erklärt, oder über »Hernani« und Lamartine's Elegien urtheilt, oder über Theater, oder über hübsche Mädchen. Abends hat er schon mehreremal Leute gebeten, was jetzt bei ihm die höchste Seltenheit ist, sodaß die meisten Gäste ihn seit Langem nicht gesehen hatten. Dann muß ich viel spielen, und er macht mir vor den Leuten Complimente, wobei »ganz stupend« sein Lieblingswort ist. Heute hat er mir eine Menge Schönheiten von Weimar zusammengebeten, weil ich doch auch mit den jungen Leuten leben müsse. Komme ich dann in solcher Gesellschaft an ihn heran, so sagt er: »Meine Seele! Du mußt zu den Frauen hingehen und da recht schönthun.«

Ich habe übrigens viel Lebensart und ließ gestern fragen, ob ich doch nicht vielleicht zu oft käme. Da brummte er aber Ottilie an, die es bestellte und sagte: er müsse erst ordentlich anfangen mit mir zu sprechen; denn ich sei über meine Sache so klar, und da müsse er ja vieles von mir lernen. Ich wurde noch einmal so lang, als Ottilie mir das wiedersagte, und da er mir's gestern gar selbst wiederholte und meinte, es sei ihm noch vieles auf dem Herzen, über das ich ihn aufklären müsse, so sagte ich »O ja!« und dachte: es soll mir eine unvergeßliche Ehre sein.

c.

Einige Tage nach meinem letzten Briefe aus Weimar wollte ich, wie ich Euch geschrieben hatte, hierher abreisen und sagte das auch bei Tisch an Goethe, der dazu ganz still war. Nach Tische aber zog er aus der Gesellschaft Ottilie in ein Fenster und sagte ihr: »Du machst, daß er hier bleibt!« Die versuchte denn nun mich zu bereden, ging mit mir in dem Garten auf und ab, ich aber wollte ein fester Mann sein und blieb bei meinem Entschlusse. Da kam der alte Herr selbst und sagte: das wäre ja nichts mit dem Eilen; er hätte mir noch viel zu erzählen, ich ihm noch viel vorzuspielen, und was ich ihm da vom Zweck meiner Reise sagte, das sei gar nichts. Weimar sei eigentlich jetzt das Ziel meiner Reise gewesen, und was ich hier entbehrte, das ich an meinen tables d'hôte finden würde, könne er nicht einsehen; ich solle noch viel Gasthäuser zu sehen bekommen. – So ging's weiter, und da mich das rührte, und Ottilie und Ulrike auch noch halsen und mir begreiflich machten, wie der alte Herr niemals die Leute zum Bleiben, und nur desto öfter zum Gehen nöthigte, und wie keinem die Zahl der frohen Tage so bestimmt vorgeschrieben sei, daß er einpaar sicher frohe wegwerfen dürfte, und wie sie mich dann bis Jena begleiten würden, so wollte ich wieder nicht ein fester Mann sein und blieb. Selten in meinem Leben habe ich einen Entschluß so wenig bereut, wie diesen; denn 310 der folgende Tag war der allerschönste, den ich je dort im Hause erlebt habe. Nach einer Spazierfahrt des Morgens fand ich den alten Goethe sehr heiter; er kam in's Erzählen hinein, gerieth von der »Stummen von Portici« auf Walter Scott, von dem auf die hübschen Mädchen in Weimar, von den Mädchen auf die Studenten, auf »die Räuber« und so auf Schiller, und nun sprach er wohl über eine Stunde ununterbrochen heiter fort: über Schiller's Leben, über seine Schriften und seine Stellung in Weimar. So gerieth er auf den seligen Großherzog zu sprechen und auf das Jahr 1775, das er einen geistigen Frühling in Deutschland nannte, und von dem er meinte: es würde es kein Mensch so schön beschreiben können, wie er; dazu sei auch der 2. [5.?] Band seines Lebens bestimmt, aber man käme ja nicht dazu vor Botanik und Wetterkunde und all dem anderen dummen Zeug, das einem kein Mensch danken will; erzählte dann Geschichten aus der Zeit seiner Theaterdirection; und als ich ihm danken wollte, meinte er: »Ist ja nur zufällig; das kommt alles so beiläufig zum Vorschein, hervorgerufen durch Ihre liebe Gegenwart.« Die Worte klangen mir wundersüß. Kurz, es war eins von den Gesprächen, die man in seinem Leben nicht vergessen kann.

[ Gräf Nr. 1848: Den andern Tag schenkte er mir einen Bogen seines Manuscripts von ›Faust‹ und hatte darunter geschrieben:

311 [Dem lieben jungen Freunde Felix Mendelsohn-Bartholdy, kräftig zartem Beherrscher des Piano's, zur freundlichen Erinnerung froher Maitage 1830.]

J. W. von. Goethe. ]

und gab mir dann noch drei Empfehlungen hierher [nach München] mit.

...Nur noch den Abschied vom alten Herrn! Ganz im Anfang meines Aufenthalts in Weimar hatte ich von einer betenden Bauernfamilie von Adrian von Ostade gesprochen, die vor neun Jahren großen Eindruck auf mich gemacht habe. Als ich nun Morgens hineinkomme, um mich ihm zu empfehlen, sitzt er vor einer großen Mappe und meint: »Ja, ja! da geht man nun fort! Wollen sehen, daß wir uns aufrecht erhalten bis zur Rückkunft, aber ohne Frömmigkeit wollen wir hier nicht auseinandergehn, und da müssen wir uns denn das Gebet noch einigemale zusammen ansehen.« Dann sagte er mir, ich solle ihm zuweilen schreiben,... und dann küßte er mich, und da fuhren wir weg.

d.

Da ich eben auf Hensel anspiele, so muß ich ihm doch erzählen, wie mich Goethe sehr nach ihm frug und wiederholt sich nach seiner Beschäftigung erkundigte; das grüne Freundbuch muß ich ihm mehrere Tage dalassen, und er lobte es dann sehr. Die Lammgruppe in meinem Stammbuch sah er sich an und brummte: 312 »Die haben's gut! Und sieht so zierlich und hübsch aus! Und so bequem und doch schön und anmuthig!« So ging's dann weiter. Kurz, o Hensel! er ist – mit Dir zu reden – sehr für Dich.

1 Drei im Jahre 1829 für das Album von drei jungen Engländerinnen componirte Clavierstücke – später als Opus 16 herausgegeben.

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