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1829, 17. October und folgends.

Mit Friedrich Förster u.a.

[ Gräf Nr. 1619: Am folgenden Tage fand ich mich zu der mir bestimmten Stunde ein, las zuerst die ›Zueignung‹ vor, welche Goethe sehr gelungen fand und derselben den Vorzug vor einer, ihm ebenfalls in diesen Tagen zugeschickten französischen Übersetzung [von Stapfer] (mit lityhgraphirten Illustrationen in Folio [von Delacroix]) zuerkannte. Als ich ferner mittheilte, wie es mich im hohen Grade befremdet habe, daß die prachtvolle Eröffnungsscene im Himmel in der Übersetzung fehle, da sie mir doch zum Verständniß der Tragödie von 156 höchster Bedeutung, ja unerläßlich zu sein scheine und außerdem als das Erhabenste und Heiligste, was jemals gedichtet worden sei, bewundert werde, mir auch die Schwierigkeit der Übertragung in's Englische nicht unüberwindlich erscheine, bemerkte Goethe: »Nicht die Schwierigkeit der Übersetzung wird den edlen Lord behindert haben, es sind religiöse, oder vielmehr hoch-kirchliche Scrupel; vielleicht nicht seine eigenen, aber die seiner vornehmen Gesellschaft. Nirgendwo giebt es soviel Heuchler und Scheinheilige, wie in England; zu Shakespeare's Zeit mag das doch wohl anders gewesen sein.«

Weiter hatte ich mitzutheilen, daß mir Gretchens Lied ›Es war ein König in Thule‹ nicht ganz getreu wiedergegeben zu sein scheine.

Die Stelle:

Und als er kam zu sterben,

Zählt' er seine Städt' im Reich,

Könnt alles seinem Erben,

Den Becher nicht zugleich

hat Mylord übersetzt

He called for his confessor,

Left all to his successor –

(Auf dem Sterbebette ließ er seinen Beichtvater – confessor – rufen), wahrscheinlich nur wegen des Reimes auf successor – Nachfolger. Goethe lachte herzlich: »Ließ seinen Beichtvater rufen!« wiederholte 157 er; »wir wollen dem edlen Lord bemerklich machen, daß der König von Thule vor der Sündfluth regierte; Beichtväter gab es damals nicht.«

Auch über die französische Übersetzung Bericht zu erstatten, übertrug er mir, und da gab es denn auch der Curiosa viele. »Die neueren und neuesten Übersetzer des ›Faust‹« – bemerkte Goethe – »sind, was die Unkunde unserer Sprache betrifft, nicht hinter ihrer geistreichen und berühmten Landsmännin, der Frau v. Stael, zurückgeblieben, welche sich doch ein unbestreitbares Verdienst um die deutsche wie um die französische Nation erworben, indem sie durch ihr Buch Sur la litérature allemande ihren Landsleuten Bekanntschaft mit unseren Leistungen, den Deutschen Anerkennung bei den Franzosen verschafft hat. Wenn man aber einem, mit der französischen und deutschen Sprache vollkommen vertrauten Literatoren den Vers der Madame Stael aufgäbe,

Ne m'interprète pas mal, charmante créature!

so würde er schwerlich übersetzen, wie es bei mir heißt:

Mißhör mich nicht, du holdes Angesicht!

Auch hätte Freund August Wilhelm v. Schlegel das lächerliche Mißverständniß beseitigen können, welches dadurch veranlaßt wird, daß Frau v. Stael die Worte Gretchens, als sie in der Kirche ohnmächtig niedersinkt und ausruft:

Nachbarin, Euer Fläschchen!

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übersetzt:

Ma voisine, une goutte!

als ob Gretchen die Nachbarin um ihre Branntweinflasche anspräche, nicht um das Riechfläschchen.«

Das gab Veranlassung, noch anderer dergleichen belustigender Übersetzungen zu gedenken.

Faust: Heiße Magister, heiße Doctor gar!

ist übersetzt worden:

On me nomme Maître – Docteur Gar.

Von Gretchen sagt Faust:

Und wie sie kurz angebunden war,

Das ist nun zum Entzücken gar!

Hierbei läßt der Übersetzer das ›gar‹ unberücksichtigt, allein das ›kurz angebunden‹ – d.h. schnippisch – nimmt er für kurz aufgeschürzt und übersetzt:

Et sa robe courte, juste,

Vraiment, c'était à ravir!

Ein Engländer sprach seine Verwunderung darüber aus, daß der Vater in der Romanze ›Erlkönig‹ so übermäßig besorgt um den Knaben geschildert werde, da er doch mit einer so zahlreichen Familie gesegnet gewesen. Auf die Bemerkung, daß hiervon in dem Gedichte nichts erwähnt werde, recitirt er mit kaum geöffneten Lippen:

Dem Vater grauset, er reitet geschwind,

Er hält in den Armen das achtzehnte Kind

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... Auch durch Druckfehler sind sehr sinnentstellende Worte dem Dichter angedichtet worden. In einer, und noch dazu Cotta'schen Ausgabe der Werke hat der Setzer die Worte der an die Lieben in der Heimath denkenden Iphigenia –

Zu den Geliebten schweist der Blick-

zu verbessern gemeint und gesetzt: zu dem Geliebten u.s.w. 1 – Aus irgend einem Nachdrucke und noch dazu in Musik gesetzt hörte ich singen im ›König von Thule‹:

Die Augen gingen ihm über,

So oft trank er daraus.

... »Bei alledem« – bemerkte ich zu Goethe – »darf es uns Deutschen zu großer Genugthuung gereichen, wenn wir sehen, wie das tiefsinnigste Werk der deutschen Dichtkunst – der ›Faust‹ – wie ein Evangelium durch die ganze Welt seine Völkerwanderung angetreten hat, und wie Dichter und Philosophen der fremden Nationen sich bemühen, in den Geist desselben einzudringen.« – Mit zustimmendem Kopfnicken äußerte Goethe: »Nun ja! wir sind so etwas deutscher Sauerteig gewesen; das fängt schon an zu gähren; sie mögen es draußen und drüben mit ihrer Masse durchkneten und sich daraus ein Backwerk nach 160 ihrem Geschmack zurechtmachen. Unterdessen werden wir zuhaus uns nach und nach in diesem wunderlichen Labyrinthe zurechtfinden lernen.«

Die dem Dichter zuletzt zugesandte französische Übersetzung war in Folio und mit Lithographien illustrirt. »Lassen Sie nun einmal die Auffassung eines Franzosen mit der eines Deutschen und zwar eines, wie sich diese Herren zu sein rühmen dürfen, von ächtem Schrot und Korn vergleichen.« Er bat seinen Hausfreund Schuchardt, die Mappe mit Cornelius' Zeichnungen zum ›Faust‹ aus dem Schranke zu nehmen, und wir legten die Scenen, welche gleichmäßig von den französischen und deutschen Künstlern gewählt worden waren, nebeneinander. »Ich sollte wohl« – äußerte Goethe, »mich hierbei eines Urtheils enthalten; denn dasselbe könnte leicht als captivirt erscheinen durch das sinnig und poetisch concipirte, fleißig und correct ausgeführte Blatt, mit welchem der ehrenwerthe Künstler mir sein Werk zugeeignet hat. Nur diese eine Bemerkung will ich mir erlauben, daß in einigen Zeichnungen der Franzos für einen Deutschen und umgekehrt der Deutsche in einigen seiner Zeichnungen für einen Franzosen gelten könnte. So z.B. sogleich das erste Blatt, wo beide die Scene illustriren, in welcher Faust dem, aus der Kirche sittsam nachhaus gehenden Gretchen seinen Arm anbietet. Cornelius' Faust würde weit eher für einen französischen Cavalier der Pariser Boulevards, als für einen deutschen Doctor der Philosophie 161 gelten können, während wir dem Faust des Franzosen etwa vor dem Münster in Straßburg zu der Zeit, als es noch zu Deutschland gehörte, zu begegnen meinen.« – Als einer der Anwesenden hierbei in Anregung brachte, daß der Dichter doch dem so vielfach an ihn gerichteten Ansuchen, seinen ›Faust‹ für die Darstellung auf der Bühne einzurichten, nachkommen möchte, unterbrach ihn Goethe mit der sehr bestimmt ausgesprochenen Erwiederung, daß er hierzu nie rathen 2 und noch weniger seine Hand dazu bieten werde. »Von meinem lieben Freunde Zelter« – sagte Goethe – »habe ich ausführliche und befriedigende Nachrichten über die Compositionen des Fürsten Radziwill und über die Proben und ersten Versuche, später auch über die gelugenen Aufführung in Euren königlichen Schlössern und fürstlichen Palästen erhalten, die mich wohl verlocken könnten; indessen wollen wir es noch weiter bedenken.« ]

1 Mickiewicz erhielt das gedrucke Gedicht »Am achtundzwanzigsten August 1826« handschriftlich unterzeichnet: »Weimar, 28. Aug. 1829. J. W. v. Goethe.«

2 C'est un sépia représentant un Paysage au centre duquel est l'entrée d'une hutte de bûcheron. Un cours d'eau, quelques arbres, des accidents de terrain, un coin de ciel disputé, répandant sur cette composition vivement touchée un caractère de violence qui n'est pas sans grandeur.

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