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1118.

1827, 30. August.

Mittag bei Goethe

a.

Der Mittag bei Goethe wurde ganz en famille zugebracht; denn außer seinem Sohne, seiner Schwiegertochter und Fräulein v. Pogwisch war nur noch der Kanzler v. Müller zugegen, dessen freie offene Natur, große Geistesschärfe und eminente Geschäftsthätigkeit bei Goethe die vollste Anerkennung fanden. Der ehrwürdige Patriarch war in der heitersten Laune und strahlte wie eine Sonne Behagen aus.

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Meine orientalische Reise wurde nun in Beirut wieder aufgenommen; wir segelten nach Larneka in Cypern hinüber, dann bei Rhodus, Samos, Chios vorbei, an Kleinasien entlang bis Smyrna. Goethe verweilte 189 lange bei den weitläufigen Ruinen von Ephesus in der einst so fruchtbaren, jetzt versumpften und menschenleeren Ebene des Kaystros. Daß Konstantinopel an Schönheit der Lage mit Neapel wetteifere, ist bekannt; es schien ihm zu gefallen, daß ich für Neapel wegen des Vesuv und des offenen Meeres den Vorzug in Anspruch nahm. Sehr wunderbar kam es ihm vor, daß ich auf der Rückfahrt von Konstantinopel nach Smyrna an der Küste von Troja neun Tage lang in Frost und Schneegestöber vor Anker gelegen. Aber es mochte im Alterthume manchmal nicht anders gewesen sein: glaubte doch Odysseus selbst in einer stürmischen Nacht unter den Mauern von Ilion zu erfrieren. (Odyss. XIV, 462-506.)

Inzwischen ging das Tischgespräch hin und her, aber Goethe kam immer wieder auf meine Reise zurück und ließ nicht eher ab, als bis ich nach einer sehr stürmischen Winterfahrt von sechsundzwanzig Tagen aus dem Hafen von Smyrna durch den Archipel um das Kap Matapan herum endlich in den Hafen von Triest glücklich eingelaufen war.

Später erkundigte er sich nach Nicolai: wann er gestorben und wie ich mit ihm verwandt sei? Ich erwiederte: Nicolai sei 1811 im 77. Jahre gestorben; daß er in solchem Alter seine sieben Geschwister überlebt, sei nicht zu verwundern, daß ihm aber auch seine Frau und acht Kinder vorangegangen, aus denen nur meine Schwester und ich, als die Kinder seiner ältesten 190 Tochter übrig geblieben, das sei wohl ein hartes Loos zu nennen.

Walter Scott's Romane standen in jenen Jahren in ihrer höchsten Blüthe und wurden vom Lesepublicum verschlungen. Der Kammerjunker äußerte sich sehr energisch gegen diesen Autor, daß er doch gar zu viel schreibe und dafür von dem Verleger ein ganz übermäßiges Honorar erhalte. »Lieber Sohn!« sagte Goethe, »wenn Du ihm seine Vielschreiberei vorhalten wolltest, die denn doch mehr Kern hat, als unsere modernen deutschen Romane, so würde er Dir ganz ruhig seine mit Banknoten gefüllte Brieftasche vorhalten.«

Müller machte der Frau v. Goethe scherzhaft den Krieg, daß sie ihre beiden Söhne nach der damaligen medicinischen Theorie allzumäßig erzöge, und Goethe schien ihm in seiner Ansicht beizupflichten. »Da ist neulich der Wolfgang zu mir gekommen, nachdem er eben gefrühstückt hatte; ich fragte ihn, ob er noch ein Stück Brod wolle, und das hat der Knabe denn auch mit einer wahren Andacht verzehrt.«

Nach Tische wurde im ungezwungensten Gespräche beim Kaffee auf- und abspazirt. .... Bei dieser Gelegenheit wurde des unerschrockenen Benehmens der Herzogin Amalie 1 gedacht. Müller erzählte darüber, daß sie nach der unglücklichen Schlacht von Jena furchtlos in Weimar geblieben sei und Napoleon's 191 Besuch abgewartet habe. Dieser kam denn auch und fuhr sie mit den Worten an: »Wie konnte Ihr Sohn 2 so toll sein, mir den Krieg machen zu wollen?« – Sire, entgegnete sie ruhig, ich bin überzeugt, daß Sie ihn verachten würden, wenn er anders gehandelt hätte. Das wirkte, und von nun an behandelte Napoleon sie mit der höchsten Auszeichnung. – Goethe hörte dieser Erzählung mit großer Aufmerksamkeit zu, sodaß man aus seinen Mienen schließen durfte, sie sei ihm noch nicht bekannt gewesen; aber er sagte nichts.

Das Gespräch hatte sich wie gewöhnlich bis 6 Uhr fortgesponnen. Endlich mußte doch Abschied genommen werden, bei dem es mir unmöglich war, die Überfülle freudiger Gefühle in die geeigneten Worte zu fassen. Als Goethe vernahm, daß ich über Dresden nach Berlin zurückginge, gab er mir die herzlichsten Grüße an Frau v. d. Recke und an seinen alten Freund Zelter mit.

b.

Ich [v. Müller] hatte mich selbst heute bei Goethe zu Mittag eingeladen und fand noch Parthey von Berlin, den Enkel Nicolai's. Dieser erzählte uns seine Audienz beim Pascha von Ägypten, dem er ein besseres Zeugniß gab als andere Berichterstatter. Goethe war damit sehr einverstanden, da er den Pascha immer aus freierem Gesichtspunkte betrachtet hatte.

192 Ich referirte darauf wie Se. M. der König von Bayern mich gestern Abend vor dem Theater zu einem Besuch im Schiller'schen Hause mitgenommen habe, wie er über die engen Räume, die Schiller bewohnt, gewehklagt und geäußert habe: hätte ich nur damals schon freie Hand gehabt, ich hätte ihm Villa di Malta in Rom eingeräumt und dort, dem Capitol gegenüber, hätte er die Geschichte des Untergangs von Rom schreiben sollen.

Allein Goethe meinte, Italien würde Schillern nicht zugesagt, ihn eher erdrückt, als gehoben haben. Seine Individualität sei durchaus nicht nach außen, nicht realistisch gewesen. Habe er doch nicht einmal die Schweiz besucht.

Goethe kam sodann auf die vielerlei Fragen und Singularitäten, die der König ihm vorgelegt, zu sprechen. Auf manche derselben habe er ausweichend, zweideutig antworten zu müssen geglaubt und geradezu erklärt, er mache es wie in der Normandie, wo, wenn man den Geistlichen frage, ob er in die Kirche gehe? immer erwiedert werde: »C'en est le chemin.«

Auch darüber, warum man Goethen den letzten Heiden genannt, habe der König gesprochen, worauf Goethe geäußert: man müsse sich doch den Rücken frei halten und so lehne er sich an die Griechen. Übrigens sei es ihm unschätzbar den König persönlich gesehen zu haben; denn nun erst könne er sich dies merkwürdige, viel bewegliche Individuum auf dem Throne allmälich 193 erklären und construiren. In derselben Zeit zu leben und diese Individualität, die mit aller Energie seines Willens so mächtig auf die Zeitgestaltung einwirke, nicht durchschaut zu haben, würde unersetzlicher Verlust gewesen sein.

Über des Königs Abschiedsworte an die junge Mad. Ridel »Gesunde Kinder, leichte Wochen« wurde viel gestritten. Goethe meinte, das sei ein Majestätsrecht von natürlichen Dingen natürlich zu sprechen.

Nach Tische wurde Goethe immer aufgeregter und herzlicher; es sei nichts Kleines, sagte er, einen so großen Eindruck, wie die Erscheinung des Königs, zu verarbeiten, ihn innerlich auszugleichen. Es koste Mühe dabei aufrecht zu bleiben und nicht zu schwindeln. Und es komme ja doch darauf an, sich diese Erscheinung innerlich anzubilden, das Bedeutende davon klar und rein sich zu entwickeln. Auch sinne er noch auf etwas, wie er dem König sich dankbar erweisen möge. Das sei aber sehr schwer, ja direct ganz unthunlich. Ich möge dazu helfen, erfinden, combiniren. Darauf schlug ich eine neue römische Elegie vor. Er lobte den Gedanken, meinte aber, er werde ihn nicht auszuführen vermögen; habe er doch auch beim Abschied der Prinzeß Marie 3 nichts hervorbringen können, wie immer, wenn sein Gefühl zu mächtig aufgeregt sei. [ Gräf Nr. 1518: »Aus Norden« setzte er hinzu, »habe ich kürzlich die schönsten und 194 zartesten Äußerungen über meine ›Trilogie‹ und über ›Helena‹ vernommen. Jene hat man ›mit der Perlenschrift der Thränen geschrieben‹ genannt.«

Wir sprachen dann über des Großherzogs Äußerungen über ›Helena.‹ »Wie schade,« äußerte Goethe, »daß dieser großsinnige Fürst auf der Stufe französischer materieller Bildung in Rücksicht auf Poesie stehen geblieben ist.« ]

1 Irrig : Louise

2 Also: Gemahl

3 Prinzessin v. S. – Weimar, verm. 1827 26. Mai mit Prinz Karl von Preußen.

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